Fick das System
Ich bin tolerant, weltoffen und habe keine Vorurteile, ist doch klar. Was in Presse, Netz und sonstwo kolportiert wird, betrachte ich zunehmend mit Argwohn. Extreme Postionen treffen aufeinander, ein ausgewogenes, sachliches Meinungsbild ist immer seltener anzutreffen und noch schwieriger selbst zu bilden. Da hilft nur eins: mutig in die Recherche gehen und sich ein eigenes, unverstelltes Bild von den Dingen machen.
Also auf nach Sachsen. In das Land, wo Flüchtlingsheime angezündet, Busse von Pegida-Hooligans belagert und Politiker an Festtagen auch mal gerne mit umgangssprachlichen Genitalbezeichnungen tituliert werden. Da hilft auch das sonst so samtene lokale Sprachtimbre nicht: „Du alte Fotze“ klingt auch auf sächsisch nicht weniger niveaulos. Darüber gibt es ja Videobeweise, aber wer weiß, wie die armen Demonstranten vorher von Gauck und Merkel beleidigt wurden. Da hat die Lügenpresse sicher wieder mal einseitig berichtet.
So fährt man also auf dem Weg von Berlin nach Prag (dessen Besuch man nicht nur wegen der konkurrenzfähigen Bierpreise sehr empfehlen kann) durch diesen mystischen Landstrich unserer Republik und fragt sich, warum er so ein gewaltiges Imageproblem hat. Nun gut, irgendwie fühlt sich der graue Novemberhimmel hier noch etwas bedrohlicher an, und auch die spärliche Besiedlung sowie die vereinzelt in der Ferne sichtbaren Plattenbausiedlungen wollen nicht so recht einladend wirken. Da können aber die Sachsen nichts dafür, und außerdem greifen hier wohl die unbewußt durch übermäßigen Nachrichtenkonsum einmassierten Vorurteile.
Nicht die Landschaft, sondern die Menschen machen ein (Bundes-) Land ja aus. Ein Tankstopp kurz hinter der grünen Grenze, schon auf tchechischem Boden, verhilft dann gottlob auch zu einer unmittelbaren Begegnung. Soviel kann man sagen: Der Sachse denkt genau wie man selbst ökonomisch und kauft Kraftstoff, Tabak und Alkoholprodukte günstig im Nachbarland ein. Das ist klug und richtig. Bei vielen anderen Merkmalen, die bei dem Anblick des jungen Herrn an der Tanksäule allerdings hervortreten, kann man zumindest geteilter Meinung sein.Das Fahrzeug ist großflächig mit Devotionalien des lokalen , dynamischen Zweitligaklubs geschmückt. Das ist vollkommen ok, Fans sind nun mal Fans. Auch die fesche Extrem-Kurzhaarfrisur, ein deutlich sichtbarer Bewegungsrückstand und eine unverkennbar einseitige Ernährung ist nichts landestypisches. Von hinten ist auf der Merchandising-Jacke ein klares musikalisches Statement für Europa und Vielfalt zu erkennen: „Freiwild“- die Rockband, die so vehement die Liebe zu Ihrer Heimat Südtirol besingt.
Die Rückkehr zum Wagen und damit die frontale Ansicht des Style-mäßig so mitteilungsfreudigen Herrn offenbart dann den dramaturgischen Höhepunkt. Zugegebenermaßen sind die Buchstaben auf dem T-Shirt durch Physiognomie und falsche Größenwahl des Trägers verzerrt, aber Sie brüllen den Betrachter immer noch groß und weithin lesbar an:
FICK DAS SYSTEM
Wo gibt es sowas eigentlich zu kaufen ? Wird das in Serie hergestellt oder individuell bei Spreadshirt gestaltet ? Egal, viel wichtiger sind ganz andere Fragen, über die man unweigerlich sinnieren muss. Wer ist eigentlich mit „System“ gemeint ? Vielleicht sind es ja diverse Behörden und Ämter , die sozial Benachteiligten ein – wenn auch nicht zu üppiges – Auskommen sichern. Dann würde auch der grobschlächtige Imperativ zur Reproduktion absolut Sinn machen. Mehr Systeme gleich mehr Auskommen. ganz klar. Aber auch, wenn hier eine undifferenzierte, eher globale Kritik der Obrigkeit gemeint ist. Die Wortwahl entbehrt zweifellos jeder Romantik, ist aber nicht per se negativ konnotiert. Die Grenzen der Verbalerotik sind heutzutage ja durchaus weit gesteckt, ganz unabhängig vom Bildungsgrad.
So hinterlässt die Begegnung irritierende Fragen. Ist das jetzt repräsentativ oder einfach nur ein dummer Zufall ? Ist das überhaupt ein Sachse oder ist er mit einem geliehenen Auto auf der Durchreise von Passau nach Berlin ? Wird hier grade eine Sozialsatire für das Kino gedreht und die Komparsen müssen tanken ? Wir werden es nicht erfahren, und statistisch ist das Ganze vollkommen irrelevant. Sachsen ist nach wie vor eine Reise wert. Das Elbflorenz, die Frauenkirche, die Fahrradwege: ein Traum!